Taiji Quan – Eine neue Dimension der Körpererfahrung
Ein Interview mit Wushu-Professor Jianguo Sun, dem Leiter der
WuYuan-Schule München
Herr Sun, was zeichnet Taiji Quan gegenüber herkömmlicher
Gymnastik aus?
Herkömmliche Gymnastik zielt darauf ab, den Körper zu stärken und
Muskelmasse aufzubauen, doch Taiji Quan geht viel weiter. Es kultiviert
Körper und Geist, da es von einem tief greifenden philosophischen
Hintergrund geprägt ist. Es beruht auf der Traditionellen Chinesischen
Medizin, die - aufgrund ihres ganzheitlichen Konzeptes -Körper und Geist
als untrennbare Einheit ansieht. Darüber hinaus basiert Taiji auf
wesentlichen Prinzipien der chinesischen Philosophie wie z. B. den
beiden Kräften Yin und Yang, deren Interaktion die fünf Elemente
(Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde) hervorbringt, und es beherzigt
ebenfalls das daoistische Leitmotiv, dass der Mensch im Einklang mit der
Natur leben soll.
Taiji Quan ist also nicht nur rein sportlicher Natur. Es erfordert
vielmehr das Zusammenwirken von Geist (Yi),
körpereigener Energie (Qi) Atmung und äußerer Kraft
(Li) getreu dem chinesischen Sprichwort "Yi dao qi dao,
qi dao xue xing, xue xing bing chu". Wörtlich übersetzt
bedeutet dieser Spruch: "Wo der Wille hingeht, da geht auch das Qi hin.
Ist das Qi angekommen, fließt das Blut (gleichmäßig) und fließt das Blut
(gleichmäßig), werden (alle) Krankheiten vertrieben."
Ist Taiji Quan für den westlichen Menschen, der aus einem
anderen Kulturkreis kommt, überhaupt erlernbar?
Ja, mit Sicherheit! Taiji Quan zählt in China zu den Kampfkünsten und
wie alle Künste, so ist auch diese Kunst nicht durch staatliche Systeme
begrenzbar. Taiji ist generell für Menschen aus allen Kulturkreisen
vortrefflich geeignet, um Körper und Geist zu trainieren. Folgende
Voraussetzungen sollten jedoch erfüllt sein: Der Taiji-Schüler sollte
echtes Interesse daran zeigen, Taiji Quan zu erlernen. Er sollte die
nötige Einstellung zum Lernen besitzen und über große Geduld verfügen.
Außerdem sollte er bereit sein, seinen Charakter zum Positiven hin zu
verfeinern. Und er benötigt einen guten Lehrer bzw. ein gute Lehrerin,
der/die ihn durch die verschiedenen Lernphasen begleitet.
Kann der westliche Mensch durch das Praktizieren von Taiji Quan
eine neue ganzheitliche Körperwahrnehmung erlangen?
Generell muss gesagt werden, dass mir eine Aufteilung der Menschen nach
östlichen, westlichen etc. Kulturkreisen fern liegt. Grundsätzlich sind
wir Menschen alle gleich. Jeder, der Taiji Quan ernsthaft betreibt, sich
bei der Ausübung genau an die Anforderungen der entsprechenden
Lernphasen hält, es regelmäßig und über viele Jahre hinweg praktiziert,
wird mit Sicherheit sowohl in körperlicher als auch in geistiger
Hinsicht eine positive Entwicklung erfahren, ja ich möchte sogar sagen,
ein wunderbares, neues Lebensgefühl entdecken. Taiji Quan kann für
jeden, der es möchte, und gleich welcher Herkunft, ein Weg zur
Kultivierung von Körper und Geist, und ein wertvoller Beitrag zur
Steigerung der Lebensqualität sein.
Inwieweit hat die Tatsache, dass Taiji Quan seine Wurzeln im
Kampfsport hat, bei den Taiji-Formen, die im Westen gelehrt werden, noch
eine Bedeutung?
Im Taiji Quan hat jede Bewegung an sich eine Kampfbedeutung bzw.
–Anwendung. Es scheint, dass dieser Aspekt im Westen teilweise
vernachlässigt wird. Als gute/r Taiji-Lehrer/-in ist es jedoch sehr
wichtig, seinen Schülern den Sinn jeder Bewegung zu erklären, und die
jeder Bewegung entsprechende Kampfbedeutung beim Erlernen zu
demonstrieren. Jeder Lernende sollte die Kampfanwendung begreifen und
auch einmal ausprobieren bzw. üben. Erfahrungsgemäß werden auf diese
Weise gerade bei Taiji-Anfängern die Bewegungen besser im Gedächtnis
behalten und auch genauer ausgeführt.
Glauben Sie, dass wir über das Praktizieren von Taiji Quan im
Westen zu einem neuen Verständnis der Beziehung des Menschen zur Welt,
zum Kosmos gelangen können?
Die philosophischen Grundideen des Taiji Quan betonen die Notwendigkeit,
dass der Mensch im Miteinander und nicht im Gegeneinander mit seiner
Umwelt bzw. der Welt insgesamt lebt. Ziel ist es, die goldene Mitte zu
finden, sich nicht in Extremen zu verlieren, sich als Teil der Natur
begreifen zu lernen und gemäß dem Yin-Yang-Prinzip zu handeln,
demzufolge sich alle Verschiedenheiten harmonisch ergänzen. Das heißt
auch, dass der Mensch um eine harmonische Beziehung sowohl zu sich
selbst, als auch zu seinem Umfeld bemüht sein muss. Voraussetzung hierzu
ist, dass man zunächst seine eigene innere Ruhe bzw. seine eigene
goldenen Mitte findet, und dabei kann Taiji Quan dem Praktizierenden
helfen.