Theoretisches Grundwissen zum Taiji Quan
Die Idee des Gegensatzes, der nicht nach Trennung, sondern nach
Ergänzung und Harmonie strebt, so wie sie im Yin-Yang-Emblem dargestellt
ist, findet auch im Taiji Quan höchsten Ausdruck.
"Schließen und öffnen, Bewegung und Ruhe, Weichheit und Härte,
Beugen und Strecken, Gehen und Kommen, Vorrücken und Zurückweichen,
Bewahren und Verlieren, im ständigen Wechsel und doch beständig."
Mit diesen Gegensatzpaaren beschreibt der Taiji-Meister
Chen Xin
(1849-1929) in seinem Taiji-Klassiker
"Taiji Quan
tushuo" das harmonische Zusammenspiel der gegensätzlichen und
doch untrennbar miteinander verbundenen Kräfte, das den Bewegungsablauf
des Taiji Quan bestimmt.
Den Himmelsrichtungen und den acht Trigrammen (Bagua), aus denen sich
die Hexagramme des "Yijing" (Buches der Wandlungen) aufbauen,
entsprechen im Taiji Quan die
acht Grundtechniken (Ba Men):
- Peng (parieren): von innen nach außen
bogenförmig verlaufende Handbewegung.
- Lü (herbeiziehen): von außen nach innen
bogenförmig verlaufende Handbewegung.
- Ji (vordrängen): mit übereinander geführten
Händen nach vorne in Richtung Gegner drängen.
- An (drücken): in der Regel von oben nach unten
in Wellenform verlaufende Handbewegung.
- Cai (entwurzeln): relativ schnelle, nach unten
ziehende Handbewegung.
- Lie (abspalten): mit einem plötzlichen
Energieausstoß die Bewegung des Gegners wegdrücken.
- Zhou (Ellenbogenstoß): mit dem Ellenbogen
schnell nach vorne geführte Armbewegung.
- Kao (Schulterstoß): nach vorne gerichteter
Schulterstoß.
Die Beständigkeit in der Bewegungsabfolge ergibt sich aus den imaginären
Kreislinien, denen alle Bewegungen folgen. Der Kreis versinnbildlicht
die universelle Einheit, unter dem alle Erscheinungen in ihrem Wandel
gesehen werden. So könnte mit der Ausweitung der Begriffe Yin und Yang
zu polaren Weltkräften, die die Vorstellung des Kreislaufs stärker in
den Vordergrund hebt, auch die kreisförmige Darstellung des Uranfangs
aufgekommen sein.
In den Kommentaren des "Yijing" taucht in Verbindung mit der Vorstellung
des Gesamtzusammenhangs aller Dinge der Begriff des "Dao" auf, dessen
ursprüngliche Bedeutung des Weges, den der Mensch zu gehen hat, im
Daoismus zur allgemeinen Weltnorm erhoben wird. So heißt es im Yijing:
"Der ständige Wechsel von Yin und Yang ist das, was Dao genannt
wird".
Das Dao, nunmehr verstanden als Sinn, wirkt überall. Es ist die
Grundlage für das Werden und Vergehen aller Dinge und damit die
Grundlage für die Einheit der Welt. Im grundlegenden Werk des Daoismus,
dem "Daodejing" (wörtl.: der Klassiker vom Weg und von der Tugend), das
dem Laozi, dem "alten Meister" aus dem 4. Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung zugeordnet wird, kann man hierzu folgendes nachlesen:
"Das Dao schuf Eins, Eins erzeugte Zwei, Zwei gebar Drei, und Drei
brachte die zehntausend Wesenheiten hervor. Die zehntausend Wesenheiten
tragen das Yin und umfassen das Yang. Durch das Ineinanderfließen ihrer
Energien kommt die Harmonie zustande."
Aufgeworfen wird hier die alte Frage, die auch im antiken Griechenland
eine Rolle spielte: Wie kommt die Vielfalt in die Welt? Die chinesische
Philosophie sucht die Antwort jedoch nicht natur-, sondern
lebensphilosophisch. In diesem Sinne verstehen sich auch die in den
Kommentaren des "Yijing" genannten fünf Grundstoffe nicht als Urstoffe
oder Elemente des Seins, sondern eher als abstrakte Kräfte, die den
Ablauf der Naturerscheinungen regeln. Wasser, Feuer, Metall, Holz und
Erde benennen fünf Potenzen, die letztendlich als Wandlungsphasen zu
begreifen sind.
Die Dynamik des Naturgeschehens, die mit diesen fünf Grundstoffen
umschrieben wird, ergibt sich im Taiji Quan aus dem ständigen Wechsel
von Yin- und Yang-Bewegungen; d.h. jede Bewegung hat ihren Gegenpart.
Alle Bewegungen bedingen und enthalten bereits einander, so ist z.B. in
der Ruhe bereits die Bewegung enthalten und in der Bewegung die Ruhe.
Alle Bewegungen sind Bestandteil eines kontinuierlichen Wandels. In
Anlehnung an die fünf Grundstoffe unterscheidet man
fünf
Basisschritte (Wu Bu):
- Jin (vordringen) - korrespondiert mit dem
Metall
- Tui (zurückweichen) - korrespondiert mit dem
Holz
- Ku (nach links blicken) - korrespondiert mit
dem Wasser
- Pan (nach rechts blicken) - korrespondiert mit
dem Feuer
- Ding (stabilisieren) - korrespondiert mit der
Erde
Die acht Grundtechniken und fünf Basisschritte sind gemeinhin als die 13
Bewegungstechniken (Shisan Shi) des Taiji Quan bekannt. Ihre Bedeutung
bzw. nähere Erläuterung ist in den
Taiji-Klassikern "Shisanshi de jieshi" von Wang Zongyue (1736-1795)
und "Shisan shi xingdong yaojie" von Wu Yuxiang (1812-1880) nachzulesen.
Angeblich wurden diese Werke zu den Taiji-Grundtechniken in Anlehnung an
ein Werk von Chen Wangting (1597-1664) mit dem Titel "Quanjing zongge"
verfasst.
Die 13 Bewegungstechniken stellen bis heute die Grundlage der
verschiedenen Taiji-Stile dar. Gegenwärtig erfreuen sich die für
Chen-Stil, Zhaobao-Stil, Yang-Stil, Wu Yuxiang-Stil, Wu-Sil und Sun-Stil
jeweils geschaffenen ShisanShi – Taolu in China großer Beliebtheit.
Bezüglich ihrer Anwendung, Effektivität und ihrem harmonischen
Zusammenwirken ist die Taiji-Forschung jedoch noch nicht abgeschlossen.