Das Dan-System
Rot, blau, orange, grün, weiß, gelb, braun, schwarz — die
Farbenpracht des Karate- oder Taekwondo-Gürtelsystems war für
Kungfu-Praktizierende seit jeher sehr verwirrend. Im Gegensatz zu
den japanischen und koreanischen Kampfkunstkollegen war der
Ausbildungsweg für einen Schüler des chinesischen "Wushu" – so der
in China übliche Name, der alle chinesischen Kampfkünste umfasst,
und der sich aus den chinesischen Begriffen "Wu" für Kampf und "Shu"
für Kunst zusammensetzt – ganz geradlinig: Er war Schüler und blieb
das auch zeitlebens vor seinem Meister, konnte aber auch selbst nach
jahrelangem, mühevollem Training, ein Training, das die Chinesen mit
"bitter essen" (chi ku) umschreiben, - irgendwann selbst die
Meisterstufe erreichen.
Obwohl das manchmal demütigende, äußert charakterbildende Training
so manchen Anhänger dieser Sportart davon überzeugte, der in der
Ausbildung anhaltende "Schülergrad" sei voll und ganz
gerechtfertigt, so gab es doch auch andere, die mit einem neidischen
Auge zu den anderen asiatischen Kampfkunstkollegen hinüberschielten
und sich fragten, warum das Wushu/Kungfu eigentlich keine
Abstufungen kannte, die den verschiedenen Ausbildungsstufen Rechnung
trugen.
Seit dem Jahr 1998 sind neidische Blicke zur 'Konkurrenz' jedoch
nicht mehr vonnöten, denn seitdem gibt es auch im chinesischen Wushu
ein differenziertes Ausbildungssystem. Das von der "Chinese Wushu
Association", der Nationalen Sportkommission und dem Chinesischen
Wushu Forschungsinstitut ins Leben gerufene Prüfungssystem besteht
aus folgenden
neun Dan-Stufen:
- 1. bis 3. Dan (blaues Adler-Symbol), die so
genannten Grundstufen-Dan, für Wushu-Schüler mit mehrjähriger
Erfahrung. Diese Dan-Kategorie kommt in etwa den Gürtelprüfungen
anderer asiatischer Kampfkünste gleich.
- 4. bis 6. Dan (silbernes Tiger-Symbol), die
so genannten Mittelstufen-Dan für Wushu-Praktizierende, die
bereits unterrichten dürfen und mindestens 10 Jahre lang
regelmäßig Wushu gelernt haben. Ab dem 5. Dan muss der
wissenschaftliche Einsatz auf dem Gebiet der Wushu-Forschung
nachgewiesen werden, z.B. durch Veröffentlichungen.
- 7. bis 9. Dan (goldenes Drachen-Symbol),
der so genannte Oberstufen-Dan, der nur an sehr erfahrene Lehrer
bzw. Meister mit überdurchschnittlichen Leistungen vergeben
wird. Ab dem 7. Dan darf sich der Lehrende "großer Meister"
nennen.
Wer allerdings aufgrund der Bezeichnung "Dan" glaubt, dieses
Prüfungssystem sei aus dem Karate, Taekwondo oder anderen
asiatischen Sportarten entlehnt irrt gewaltig. Aus Gründen der
internationalen Angleichung einigten sich die chinesischen
Sportbehörden zwar auf den Begriff "Dan" anstelle des fast gleich
lautenden chinesischen Wortes "Duan" (zu Deutsch:
Stufe/Grad/Abschnitt), doch ist es keineswegs so, dass das
chinesische Wushu niemals ein Prüfungssystem gekannt hätte.
Ein Blick in die chinesische Wushu-Enzyklopädie (Zhongguo Wushu
baike quanshu) zeigt auf, dass bereits in der Vergangenheit ähnliche
Systeme existierten: z.B. während der Tang-Dynastie im Jahre 702, wo
es zur Zeit der Regierungsperiode der Kaiserin Wu Zetian ein
Prüfungssystem für die chinesischen Kampfkünste mit insgesamt drei
Meisterstufen gab. Hatte ein Kampfkünstler alle Prüfungen dieses
Systems erfolgreich bestanden, d.h. konnte er sowohl in
kampftechnischer als auch menschlich-moralischer Hinsicht
hervorragende Qualitäten unter Beweis stellen, so war ihm der
Aufstieg zum Großmeister ersten Ranges möglich, wobei diese erste
Stufe nur an herausragende Persönlichkeiten vergeben wurde.
Im Lauf der Jahrhunderte unterlag das Prüfungssystem im Wushu zwar
zahlreichen Veränderungen, in seinen Grundzügen überdauerte es
jedoch mehrere Dynastien bis hin zur Qing-Dynastie (1644-1912). In
der Regel hatte ein Kampfkünstler alle drei Jahre die Gelegenheit,
an einer Prüfung teilzunehmen. Dem Können entsprechend wurden
bestimmte Titel vergeben, die je nach Zeitepoche und Region
variieren. So gab es zum Beispiel die Titel "Wuxiucai" (ein
akademischer Titel für Kampfkünstler auf Kreisebene), "Wujuren" (ein
akademischer Titel für Kampfkünstler auf Provinzebene) oder
"Wuzhuang yuan" (der Koryphäentitel für Kampfkünstler, die dann als
Examensberater für die kaiserliche Kampfkunstprüfung tätig sein
konnten). Mit der Gründung der VR China im Jahr 1949 fand die
Titelvergabe im Wushu aus politisch-ideologischen Gründen jedoch ihr
Ende.
Schließlich sah sich China in den letzten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts zunehmend mit der Tatsache konfrontiert, dass Kungfu
und Taiji Quan auch im Westen immer populärer wurde. Eine tragende
Rolle hierbei spielten freilich Kampfkünstler wie Bruce Lee, Jet Li
oder Jackie Chan, die nicht nur die internationalen Leinwände
eroberten, sondern einem breiten Publikum die chinesischen
Kampfkünste so eindruckvoll näher brachten, dass mehr und mehr Leute
im Westen begannen, sich für Wushu (Kungfu & Taiji) zu begeistern.
Hinzukam, dass es Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre im Westen
zu einem grundlegenden Umdenken kam. Die östliche Lebensphilosophie
galt plötzlich als "in". Stress geplagte Menschen entdeckten Wushu
nicht nur als idealen Ausgleichssport, sondern auch als heilsame
Therapie für den Geist. In einer Welt des schnellen Geldes und der
sich stetig wandelnden und immer weiter abnehmenden moralischen
Werte bot Wushu eine Rückbesinnung auf alte traditionelle Werte, wo
die Kultivierung von Körper und Geist, ja das Arbeiten an der
eigenen Persönlichkeit insgesamt im Mittelpunkt stand. Doch blieb es
für viele Kungfu-Trainierende, die regelmäßig an Wettkämpfen
teilnahmen, oft unverständlich, warum das chinesische Wushu-System
nicht ein ähnliches Abstufungssystem kannte wie so viele andere
asiatische Kampfsportarten.
Mit der Zeit wurden Forderungen nach einem erneuten Prüfungssystem
laut, dem die chinesischen Sportbehörden 1997 Rechnung trugen, um
die chinesischen Kampfkünste sowohl auf nationaler als auch auf
internationaler Ebene zu fördern. Durch das neue Prüfungssystem soll
Wushu-Übenden in aller Welt die Möglichkeit geboten werden, ihr
technisches und theoretisches Niveau systematisch zu verbessern,
sich mit Gleichgesinnten niveauvoll zu messen, und dabei die eigenen
Fähigkeiten besser einschätzen zu lernen. Die daraus resultierende
erhöhte Motivation der Wushu-Betreibenden, ihr Niveau in
praktischer, theoretischer, aber auch ethischer Hinsicht anzuheben,
soll – gepaart mit dem verstärkten globalen Austausch von fachlichem
Wissen – dazu führen, dass die verschiedenen Stilarten und
–techniken in ihren Charakteristika und ihrem legendären Wushu-Geist
nicht verloren gehen. Außerdem soll die Dan-Prüfung die praktische,
theoretische und ethische Qualifikation der Wushu-Lehrer weltweit
gewährleisten. Schließlich ist man in Peking darum bemüht, dem
komplexen Inhalt des Wushu eine sinnvolle und übersichtliche Ordnung
zu geben; und auch die theoretische Wushu-Forschung voranzutreiben.
Letztere wird z.B. neben regelmäßig stattfindenden Wushu-Symposien
auch dadurch unterstützt, dass sich Magister-Absolventen im Fach
Wushu seit 1997 erstmals die Möglichkeit zur Promotion bietet.
Schließlich bestehen ja auch seitens der chinesischen Sportbehörden
der Wunsch und das Bestreben, dass Wushu Olympiadisziplin wird.
Grundvoraussetzung hierfür ist ein weltweites Netz von
Dan-Prüfungsstellen. Der erste Schritt auf diesem Weg wurde im Juni
1998 durch das Abhalten einer Dan-Prüfung in Peking/VR China getan.
Auf nationaler Ebene wurde damals erstmals 111 Wushu-Meistern ein
Dan-Titel der höheren Stufe verliehen. Somit gab es in China im Jahr
1998 drei Großmeister mit dem 9. und damit höchsten Dan für Wushu:
Cai Longyun, Zhang Wenguang und He Fushen; 26 Großmeister mit dem 8.
Dan und 82 mit dem 7. Dan. Im Jahr 2003 gibt es nach unserem Wissens
mittlerweile 10 Großmeister mit dem 9. Dan, 69 Großmeister mit dem
8. und 609 mit dem 7. Dan.
Die europäischen Vertreter der "Chinese Wushu Association" und die
Kontaktpersonen bezüglich Fragen zur Dan-Prüfung sind Herr Jianguo
Sun (7.Dan) in München/Deutschland, Herr Genfa Sun (7.Dan) in
Lyon/Frankreich und Herr Shaofan Zhu (6.Dan) in St. Gallen/Schweiz.
Seit dem Jahr 2003 können die Dan-Prüfungen nicht nur in Peking,
sondern auch in Shanghai abgelegt werden. Weitere Infos unter
www.wushu.com